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Newsletter Kapitalmarkt- und Bankrecht Issue 4|2020

Product Governance nach MiFID II/WAG 2018 in der Praxis

16. April 2020

Eine wesentliche Neuerung durch die MiFID II-Umsetzung im Wertpapieraufsichtsrecht war die Einführung der Product Governance. Damit ist bekanntlich erstmals im Wertpapieraufsichtsrecht im Rahmen eines Produktfreigabeverfahrens der Hersteller (=Konzepteur) verpflichtet, einen bestimmten Zielmarkt von Endkunden festzulegen, für den das Produkt bestimmt ist. Nachstehend wird diese komplexe Materie kurz systematisch dargestellt. Im Anschluss erläutern wir einige jüngere praxisrelevante Entwicklungen.

Durch die Product Governance-Bestimmungen soll der gesamte Lebenszyklus von Finanzinstrumenten reflektiert werden und die bereits von der MiFID I bekannten Geeignetheits- und Angemessenheitsprüfungen durch Vorschalten der neu geforderten Zielmarktdefinition ergänzt werden. Das Ganze bezweckt natürlich einen verbesserten Anlegerschutz. Der Trend einer (noch) umfassenderen Regulierung des Lebenszyklus hat seinen Ursprung bekanntlich in Erfahrungen durch die Finanzkrise. Komplexe Produkte, wie Verbriefungen und Hebelprodukte, haben maßgeblich zur Entstehung und Ausweitung dieser Krise beigetragen, weil sie verpackt in weiteren strukturierten Produkten sowohl an professionelle Kunden, als auch an Privatanleger vertrieben wurden. Dabei wussten offenbar vielfach weder die Konzepteure, noch der Vertrieb und schon gar nicht die Anleger genau, wie die Produkte funktionieren und sich möglicherweise entwickeln könnten.

Die Komplexität des neuen MiFID II-Regulierungsansatzes zeigen bereits die Rechtsgrundlagen der Product Governance. Das Product Governance-Verfahren ist in Art 9 Abs 3, Art 24 Abs 2 und Art 16 Abs 3 MiFID II geregelt. Ergänzt werden diese Vorgaben durch Art 10 f delRL 2017/593 und die ESMA-Leitlinien zu den Produktüberwachungsanforderungen der MiFID II. Die korrespondierenden österreichischen Regelungen finden sich in §§ 30, 31, 47 Abs 2 WAG 2018. Zusätzlich beantworten auch die aktuellen „Questions and Answers on MiFID II and MiFIR investor protection and intermediaries topics“ der ESMA vom 18.02.2020 eine Frage zum Themenkomplex Product Governance. Gut ergänzend zur Auslegung auch von österreichischen Marktteilnehmern herangezogen werden kann zudem der BT 5 des Rundschreibens 05/2018 (WA) – Mindestanforderungen an die Compliance-Funktion und weitere Verhaltens-, Organisations- und Transparenzpflichten (MaComp) der deutschen BaFin.

§ 47 Abs 2 iVm § 30 WAG fordert die Einführung eines formalisierten Produktprüfungs- und -genehmigungsprozesses, der im Ergebnis zu einer Festlegung jenes (abstrakten) Kundenkreises führen soll, für dessen Bedürfnisse das jeweilige Finanzinstrument geeignet erscheint (positiver Zielmarkt), sowie etwaiger Kundengruppen, für die dies nicht der Fall ist (negativer Zielmarkt). Bei dieser Zielmarkt-Definition sollten laut ESMA-Leitlinien folgende Kategorien verwendet werden:

  • Kundentyp, auf den das Produkt abzielt;
  • Kenntnisse und Erfahrungen;
  • finanzielle Situation, va im Hinblick auf Verlusttragfähigkeit;
  • Risikotoleranz und Kompatibilität des Risiko-Ertrags-Profils des Produkts mit dem Zielmarkt;
  • Ziele und Bedürfnisse des Kunden.

Während die meisten der genannten Kategorien einfach abbildbar sind, sind die Risikotoleranz und die Kompatibilität des Risiko-Ertrags-Profils des Produkts mit dem Zielmarkt oftmals schwierig zu beurteilen. Dazu muss nicht nur der Kunde, sondern auch das Produkt beurteilt und in die Risikotoleranz mit einbezogen werden. Es sind also eine Erstellung des Risikoprofils des Kunden und sodann eine Erstellung der Risikoklasse der Finanzinstrumente (etwa SRI [Summary Risk Indicator] der PRIIPs) erforderlich. Sodann ist das Risikoprofil des Kunden mit der Risikoklasse des Finanzinstruments abzugleichen. Die genannten Kategorien können örtlich ergänzend zu Geeignetheits- und Angemessenheitsprüfungen abgebildet werden. Nach erstmaligem Festlegen ist die Aktualität der Zielmarktbestimmung laufend zu überwachen.

Die MiFID II will auch eine bessere Abstimmung zwischen Konzepteur und Vertreiber erreichen. Dabei wird der Vertreiber in die Pflicht genommen. Er muss über wirksame Vorkehrungen verfügen, um von den betreffenden Konzepteuren ausreichende Informationen zu bekommen (§ 30 Abs 2 Satz 2 WAG 2018). Zudem müssen Vertreiber den Konzepteuren Informationen über Verkäufe und Überprüfungen zukommen lassen (§ 31 Abs 13 WAG 2018). Vorgelagert muss aber auch der Konzepteur dem Vertreiber Informationen aus dem Produktfreigabeverfahren zur Verfügung stellen.

Für die Verpflichteten ist es oft schwierig, diesen Vorgaben vollumfänglich und gleichzeitig möglichst kostengünstig, dh standardisiert, nachzukommen. Dies zeigen auch jüngste Erkenntnisse der BaFin-MiFID-II-Marktuntersuchung. Vereinzelt erscheinen die Ausführungen zu bestimmten Zielmarktkategorien demnach verbesserungswürdig: So werde laut BaFin oft als Anlageziel „Vermögensbildung bzw. Optimierung“ angegeben, obwohl es noch andere vordefinierte Ziele wie etwa die spezifische Altersvorsorge gäbe. Bei einigen Anlageprodukten wäre für die BaFin eine stärkere Differenzierung wünschenswert gewesen. Es solle genau auf den jeweiligen Kunden eingegangen werden, allgemeine Ausführungen bezüglich Geldanlage seien nicht ausreichend. Dies sollten sich auch die österreichischen Rechtsunterworfenen zu Herzen nehmen.

Weiters bemängelt die BaFin insbesondere, dass nur die allerwenigsten Konzepteure für ihre Produkte einen negativen Zielmarkt festlegen. In manchen Fällen sei auch nicht ersichtlich, dass Konzepteure und Vertriebsunternehmen bei besonders risikoreichen, komplexen oder illiquiden Produkten eine höhere Sorgfalt bei der Durchführung der Product-Governance-Prozesse an den Tag legen würden. Zu beidem sind sie aber aufsichtsrechtlich verpflichtet. Gerade der negative Zielmarkt, der ja dazu führt, dass Produkte auf diesem nicht vertrieben werden dürfen, ist für Verpflichtete ein Balanceakt zwischen Geschäftsinteressen und Einhaltung des Aufsichtsrechts. Wie die BaFin festgestellt hat, begegnen einige Verpflichtete diesem „Problem“ damit es zu ignorieren. Um Sanktionen durch die Aufsichtsbehörden zu vermeiden, raten wird von einem solchen Vorgehen ab und stattdessen einen konkreten negativen Zielmarkt zu definieren.

Dr. Sebastian Sieder

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