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Newsletter Gesundheit und Recht aktuell Issue 4|2016

Seltene Behandlungsrisiken: Hat der Arzt darauf hinzuweisen?

30. Juni 2016

Wenn – selbst nach einer fachgerechten ärztlichen Behandlung – Beschwerden bei Patienten auftreten, stellt sich die Frage, ob der Arzt auf diese im Vorhinein hätte hinweisen müssen. Der Oberste Gerichtshof legte in einer jüngsten Entscheidung Kriterien fest, bei denen ein Arzt über derartige Folgen aufklären muss.

Eine Patientin ließ sich eine Zahnprothese anfertigen, wobei der Zahnarzt die gewünschte Zahnprothese insgesamt drei Mal anfertigen musste, da die Patientin wiederholt über Passungenauigkeiten und Beschwerden geklagt hatte. Dies, obwohl die Behandlung der Patientin den Grundsätzen der medizinischen Wissenschaft entsprach und fachgerecht erfolgte. Die von der Patientin beschriebenen Schmerzen beim Tragen dieser Prothese hatten keine äußerlich erkennbare Ursache. Wie sich später herausstellte, litt die Patientin allerdings an einem atypischen Gesichtsschmerz, der durch eine Somatisierungsstörung bedingt war. Dieser Gesichtsschmerz ist vollständig durch diese Störung erklärbar, bei der Schmerzen bald verstärkt, bald ohne organisch fassbaren Befund wahrgenommen werden. Bei einer solchen Störung können auch nach einer fachgerecht durchgeführten zahnärztlichen Behandlung unvorhersehbare und wiederkehrende Schmerzen auftreten. Darüber, dass es trotz sorgfältigster Behandlung und lege artis hergestellter Prothese zu Schmerzzuständen kommen kann, hat der Beklagte die Klägerin vor der Behandlung nicht aufgeklärt. Er wies lediglich auf ein mögliches Fremdkörpergefühl hin. Die Patientin klagte den Zahnarzt daraufhin auf Rückzahlung des geleisteten Honorars, Schmerzensgeld sowie die Kosten für eine neue Aufbissschiene aufgrund fehlerhafter Behandlung und Verletzung seiner Aufklärungspflicht. 

Sowohl das Erst- als auch das Berufsgericht wiesen das Klagebegehren der Patientin ab. Der Oberste Gerichtshof wies auf die geltende Judikatur zur ärztlichen Aufklärungspflicht hin und führte dazu wie folgt aus: Die ärztliche Aufklärung soll den Einwilligenden in die Lage versetzen, die Tragweite seiner Einwilligung zu überschauen. Der Arzt muss den Patienten, um ihm eine selbstbestimmte Entscheidung zu ermöglichen, über mehrere zur Wahl stehende diagnostische oder therapeutische adäquate Verfahren informieren sowie, das Für und Wider mit ihm abwägen, wenn jeweils unterschiedliche Risiken entstehen können und der Patient eine Wahlmöglichkeit hat. Der konkrete Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab, wobei nicht auf alle denkbaren Folgen der Behandlung hinzuweisen ist.

Im vorliegenden Fall wurde dem Zahnarzt vorgeworfen, nicht darüber aufgeklärt zu haben, dass es auch bei fachgerechter Behandlung zu unvorhersehbaren und auch wiederkehrenden (massiven) Schmerzzuständen kommen kann. Berücksichtigt man nun, dass die Somatisierungsstörung der Patientin eine Anomalie darstellt, wäre eine Aufklärungspflicht nur dann zu bejahen, wenn diese Störung bei einer größeren Anzahl von Menschen auftritt und damit beim Aufklärungsgespräch ins Kalkül zu ziehen wäre oder der Arzt sonst – in der Regel durch den Patienten – Informationen über das Bestehen einer solchen Störung erhalten hat. Beides wurde von der Patientin aber nicht behauptet. 


Über Behandlungsrisiken, die sich nur ganz selten und unter ganz bestimmten Umständen verwirklichen, ist aber nicht aufzuklären (OGH 1Ob39/16s vom 31.03.2016). 



Dr. Michael Straub, LL.M.

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