1. Einleitung
Im österreichischen Recht steht bestimmten nahen Angehörigen und dem Ehegatten des Verstorbenen der Pflichtteil zu. Dieser beträgt die Hälfte des Erbteils, der dem Pflichtteilsberechtigten nach der gesetzlichen Erbfolge zustünde. Der Pflichtteilsanspruch ist vor der Einantwortung gegen die Verlassenschaft und danach gegen die Erben zu richten. Dabei handelt es sich um einen schuldrechtlichen Anspruch auf Zahlung in Geld. Der Pflichtteil verjährt nach § 1487a ABGB innerhalb von drei Jahren ab Kenntnis der anspruchsbegründenden Tatsachen (subjektive, kenntnisabhängige Frist). Unabhängig von der Kenntnis verjährt der Anspruch innerhalb von 30 Jahren ab dem Tod des Verstorbenen (objektive, kenntnisunabhängige Frist). In 2 Ob 117/21a hat der OGH festgehalten, dass die kurze Verjährungsfrist erst frühestens ein Jahr nach Tod des Verstorbenen zu laufen beginnt.
Wenn für die Bestimmung der Pflichtteile Schenkungen hinzu- oder angerechnet werden, die Verlassenschaft aber zur Deckung der Pflichtteile nicht ausreicht, so kann nach § 789 ABGB der verkürzte Pflichtteilsberechtigte vom Geschenknehmer die Zahlung des Fehlbetrags verlangen. Der OGH hat sich in 2 Ob 214/22t mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Verjährungsfrist für diesen Anspruch ebenfalls frühestens ein Jahr nach Tod des Verstorbenen zu laufen beginnt.
2. OGH vom 17.01.2023, 2 Ob 214/22t
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Mutter der Streitteile ist im Mai 2018 verstorben. Die Verlassenschaft wurde ihrem Ehemann an Zahlung statt überlassen. Der Beklagte hat von der Mutter eine Schenkung erhalten. Da in der Verlassenschaft nicht mehr genug vorhanden war, um den Pflichtteil der Klägerin zu decken, klagte sie ihren Bruder als Geschenknehmer nach § 789 ABGB. Dieser wandte ein, dass der Klägerin seit Juli 2018 alle Anspruchsvoraussetzungen bekannt waren und die Stundungsregel des § 765 Abs 2 ABGB auf den Anspruch auf Zahlung des Fehlbetrags nicht anwendbar ist und deswegen dieser Anspruch schon verjährt ist.
Der OGH stellte fest, dass die Verjährungsfrist, welche frühestens 1 Jahr ab Tod des Verstorbenen zu laufen beginnt, nicht nur bei der Pflichtteilsklage, sondern auch bei der Klage wegen des Schenkungspflichtteils zur Anwendung kommt und begründet dies wie folgt:
Grundlage jedes Haftungsanspruchs nach §§ 789 ff ABGB sei ein in der Verlassenschaft nicht gedeckter Pflichtteilsanspruch. Somit ist der Haftungsanspruch gegen den Beschenkten subsidiär zur Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs gegen die Verlassenschaft oder gegen den Erben. Es würde einen erheblichen Wertungswiderspruch darstellen, wenn die Verjährung des subsidiären Anspruchs früher zu laufen beginnt als jene des Hauptanspruchs. Dass der Gesetzgeber in § 790 Abs 2 ABGB einen Verweis auf §§ 766 bis 768 ABGB, nicht aber auf § 765 ABGB anordnete, stellt eine erkennbare planwidrige Unvollständigkeit dar. Dies sei auch aus den Materialien erkennbar, die ausdrücklich betonen, dass die Schutzwürdigkeit des Geschenknehmers bei der vorweggenommenen Erbfolge nicht geringer sei als die Schutzbedürftigkeit des Pflichtteilsschuldners. Es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber den Geschenkgeber zwar von einer letztwillig oder gerichtlich angeordneten, nicht aber von der gesetzlich vorgesehenen Stundung profitieren lassen wollte. Wenn man § 765 Abs 2 nicht analog anwenden würde, käme es zu einer sachlich nicht zu rechtfertigenden verjährungsrechtlichen Aufspaltung, wenn eine Person als eingeantworteter Erbe und als Geschenknehmer in Anspruch genommen wird.
3. Fazit
Die Verjährung des Pflichtteilsanspruchs beginnt ab Kenntnis der anspruchsbegründenden Tatsachen, frühestens jedoch 1 Jahr nach dem Tod des Verstorbenen zu laufen. Diese Grundsätze sind laut OGH auch auf die Geltendmachung des Schenkungspflichtteils anzuwenden.
DDr. Katharina Müller, TEP / Dr. Martin Melzer, LL.M.